Kinematographie, Film und Kino in Castan’s Panopticum (CP 1869–1922) und Passage-Panoptikum (PP 1888–1923) Berlin oder: Vom Abhandenkommen der 3. Dimension.

Kleine Schlaglichter-Chronologie aus Archiv, Tagespresse, Wochenschrift und Literatur

Von Angelika Friederici

Erster Auftritt des neuen Technikformats Film in Berlin

1. November 1895: Im Berliner Wintergarten-Varieté wurden die Lebenden Photographien von Max und Emil Skladanowsky öffentlich aus der Taufe gehoben: ihr Bioscop, ein Projektionsapparat, eröffnete den anschließenden Filmreigen mit einem italienischen Bauerntanz, der von den Kindern des Artisten Hugo Ploetz-Larella vorgeführt wurde.

25. April 1896: Erstmalige Vorführung eines Kinematographen in Berlin, hier Unter den Linden 21. Auf einer mit weißer Leinewand überspannten Fläche erscheinen unter der Wirkung intensiven elektrischen Lichtes Bilder, die uns Personen, Straßenszenen und Vorgänge aus dem täglichen Leben mit einer verblüffenden Natürlichkeit in Bewegung vorführen (Vossische Zeitung, VZ). Die Filme, darunter ein kolorierter, wurden beworben als Kinematograph oder als Lebende Photographien und gegen ein Eintrittsgeld von 50 Pfennigen über mehrere Monate, etwa wöchentlich wechselnd, zwischen 10.00 und 22.00 Uhr halbstündlich gezeigt.

28. April 1896: Vorführung von je acht bis zehn schwarz-weißen Kurzfilmen durch die Deutsche Automaten-Gesellschaft im ersten Stockwerk der Berliner Friedrichstraße 65a, Ecke Mohrenstraße, im Anschütz’schen Verfahren (VZ) bei rotierenden Scheiben. Die Vorführungen, beworben mit Kinematograph „Lumière“, fanden anschließend für längere Zeit um 11, 12, 13 Uhr sowie ab 16.00 bis 21.30 Uhr halbstündlich statt, kosteten 50 Pfennige Eintritt und wechselten häufig das Programm.

Juli 1896  CP, PP: Die Neorenaissance- und Neobarock-Fassade beider Panoptika wurde durch Lumière-Operateure abgefilmt. Der Film ist erhalten. Man sieht erstmals die durch bewegte Personen und verschiedene Gefährte belebte Außenfassade mit Werbung für das Passage Panoptikum sowie die mit einem Werbebanner versehene Fassade des gegenüberliegenden Castan’s Panopticum. Diese und auch andere, jüngere Filmsequenzen mit der belebten Außenansicht beider Häuser fanden ihren mehrfachen Einsatz auch in nach 1896 entstandenen Dokumentations- oder Spielfilmen, siehe z.B.:
https://youtu.be/aR1ZlbqYHtI?si=ZAf-N15gCziltoMl

Integration des Technikformats Film in das Sinnenformat Castan’s Panopticum

21. Mai 1899 CP: Erste Erwähnung von lebenden Photographien im Berliner Stammhaus im Pschorr-Bräu in der Friedrichstraße 165 durch eine Berliner Tageszeitung, sieben Tage später wurde auf den Einsatz von Mutoskop und Biograph hingewiesen. Diese Biographen arbeiteten mit 68 mm-Format und die Projektoren waren groß und unhandlich. Sie fanden daher nur Einsatz in großen Räumen wie den frühen sog. internationalen Varieté-Theatern, an die Castan’s Panopticum nun aufgeschlossen hatte. Künftig liefen Kurzfilme mit fast ausschließlich nur zeitgemäß-aktuellen Stoffen in Castan’s großem Theatersaal, in dem weiterhin u.a. auch Völkerschauen präsentiert werden. Die Films (sprachlich war damals die Verwendung des englischen Plurals üblich) wurden von der American Mutoscope Company und deren europäischen Tochtergesellschaften produziert, der Eintrittspreis bei den Castans mit 20 Pfennigen war besonders gering. Der erstmals im Mai 1899 inserierte neue Programmpunkt wird künftig beworben als lebende Photographien in Lebensgrösse, sensationelle lebende Photographien oder lebende Photographien. Der monatliche Austausch der Filmreihen wurde inseriert, selten unter Angabe von Inhalten wie u.a. im September ein Film über Dreyfus vor dem Kriegsgericht in Rénnes, im April 1900 der Stapellauf eines modernen Schlachtschiffes, im Juli die Flottenparade in Kiel unter Teilnahme der Kaiserin und die Ausfahrt des Panzergeschwaders nach China oder im Oktober Bilder von der Rue des Nations auf der Pariser Weltausstellung. Seit Ende 1899 ging die Rede vom Kinematographen, seit 1902 vom kinematographischen Theater und kinematographischen Vorführungen. Vielleicht lag diesem Wortwechsel ein Wechsel zu Lumière-Kurzfilmen zugrunde. Hingegen handelte es sich bei der Vorführung von photographischen Riesenbildern, photographischen Kolossalaufnahmen, Riesen-Projections-Bildern bzw. Riesenmomentbildern und Riesenphotographien um nach Originalphotographien hergestellte Diapositive, also nicht um filmbewegte Bilder.
Die rasche und preiswerte programmatische Integration noch kurzer kinematographischer Filme in die programmatische Konzeption eines Panoptikums entsprach zunächst vollauf dem transformatorischen Wesenskern eines kaiserzeitlichen Bildmedienformats Panoptikum.

11. November 1900  PP: Erste Erwähnung des Abspielens von Kurzfilmen auf einem Biographen im Theatersaal Unter den Linden 22/23 / Friedrichstraße 164 / Behrenstraße 50/52 (Kaiserpassage) in einer Schaustellerzeitschrift. Für dieses Passage Theater wurden zum Preis von 10 Pfennigen Programme gedruckt, die das gemischte Theater-, Schaustellungs-, Zirkus- und Unterhaltungsprogramm unter ca. 15 Veranstaltungspunkten auflisteten, und als deren letzter Programmpunkt die Vorführung des Biographen angekündigt wurde.

5. Juni 1902 PP: Erwähnung kinematographischer Vorführungen im Passage-Theater, das dem PP angeschlossen war. Auch vor dem stets abschließenden Programmpunkt Vorführungen des Kinematographen erschienen vor begeistertem Publikum prächtig kostümierte weibliche Bühnendiener in roter Livree, um die Programmtafel zu wechseln. Im September spielte der Kinematograph die neuesten Aufnahmen der Krönungsfeierlichkeiten Edward VII. in London und zeigte den Empfang des Königs von Italien Viktor Emanuel III. in Berlin. Es wurde baupolizeilich im jetzigen Zustand nur bis zum Ende der Saison gestattet. Zum Totensonntag war eine Zensurgenehmigung für das einzureichende Bilderverzeichnis des Kinematographen notwendig (wie im Folgenden Landesarchiv Berlin, LAB), in den spärlich überlieferten Polizeiakten wird diese vorherige Einreichung eines genehmigungspflichtigen Bildverzeichnisses zum Kinematographen-Programm dreimal überliefert, immer im Kontext mit hohen kirchlichen Feiertagen. Für das Dezember-Programm soll sich Direktor Rosenfeld die Aufnahmen der Krupp’schen Leichenfeier und des Leichenzuges in Essen exklusiv gesichert haben. Künftig wird werblich regelmäßig auf den Kinematographen hingewiesen, selten unter Angabe des Inhalts wie am 26. Juli 1903 auf den gerade stattgefundenen Gordon-Bennett-Cup. Vor September 1907 erfolgte die Umstellung / Erweiterung auf Bilder des Vitaskops, für deren Abspielung eine polizeiliche Genehmigung einzuholen war.

Kinderstube des Technikformats Film im Panopticum

Mai 1904  CP: Es erfolgte die feuer- und baupolizeiliche Überprüfung des Kinematographen, der in vieler Beziehung nicht den Vorschriften entsprach (LAB). So bewegte sich der Film vor der Linse nicht in einem abgeschlossenen Raum, und die Metalltrommel zur Aufnahme des Films war weder geschlossen noch verfügte sie über ausreichend enge Film-Eintritts- und -Austrittsöffnungen. Ab Ende Mai stand der Wieder-Inbetriebnahme des frisch geprüften Kynematographen-Apparates (Schreibweise in der Polizeiakte des LAB) bei nun fester Raum-Bestuhlung nichts mehr im Wege.

22. November 1905 CP: Die neue Direktion der CP GmbH integrierte ein Théatre lumière in ihr Programm. Dieses Théatre lumière legte einige interessante Proben seiner Leistungsfähigkeit ab. Zunächst wurde in Lichtbildern eine Nilreise veranschaulicht, die den Zuschauern das Land der Pharaonen, seine Leute, seine uralten weltberühmten Bauwerke und Typen seiner bunt zusammengewürfelten Bevölkerung, aber auch die Riesenbauten zeigte, welche mit englischem Kapital zur Regulierung des Nils und zur Herstellung von Verkehrswegen in das Innere Afrikas ausgeführt worden sind.

7. April 1907  CP: Seit dem Ausscheiden der Brüder Louis und Gustav Castan aus der Geschäftsleitung des 1899 zur GmbH umfirmierten Unternehmens wuchs der Ausstellungs- und Vorführ-Anteil christlich-religiöser Programmpunkte, und erfolgte u.a. stündlich die kinematographische Vorführung von Leiden und Tod Jesu.

30. Oktober 1907: Die neue Feuergefährlichkeit, die in einem Panoptikum nun vorrangig vom Kinematographen und deren oft unerfahrenen Betreibern ausging, welche, ungeschult, im Brandfall eher panisch reagierten, bestätigte sich immer wieder. So geriet in Bochum im sechs Wochen zuvor vom Schausteller Carl Gabriel eröffneten großstädtischen Panoptikum, einem fünfstöckigen Neubau mitten in der Stadt an der oberen Marktstraße – ein Panoptikum ähnlich dem bekannten Castan’schen in Berlin – am 30. Oktober das darin befindliche beliebte Kinematographen-Theater während einer Dauervorführung zwischen 14.00 und 23.00 Uhr vollständig in Flammen, deren Hitzeentwicklung auch den Stuck massenweise von den Wänden fallen ließ. Dies war nur einer der zahllosen Brandvorfälle, die jedoch auch Gabriel als Schausteller mit Leib und Seele nicht davon abhielten, selbst als erfahrener Betreiber verschiedener Panoptika das Fach zu wechseln und u.a. in München und Augsburg, in personeller und räumlicher Konstanz, Lichtbildtheater zu gründen und zu betreiben.

November 1907  CP: Erneut feuerpolizeilich gesperrt wurde der auf Holzdielen stehende Kinematographenapparat im Theatersaal des 2. Stocks im Pschorr-Bräu, es hieß dazu: Die Wände der Apparatebude bestehen aus einem Lattengestell, das etwa bis auf Reichhöhe mit Blech und darüber hinaus mit verbrennlichen Leinewandstoff bekleidet ist. Ebenso besteht die Decke aus Leinewand. Die an dem Apparat angebrachten Feuerschutztrommeln sind nicht fest montiert, entsprechen also nicht den Vorschriften. Ebenso sind die elektrischen Leitungen im Apparatraum nicht sachgemäß verlegt. Bei der Besichtigung wurde in dem Apparatraum ein 50-60 cm hoher Eisenkasten vorgefunden, der etwa bis zur Hälfte mit losen Filmstreifen angefüllt war. Von Seiten der Feuer- und Baupolizei wurde gefordert: Die Wände und die Decken des Apparatraums sind völlig aus feuersicherem Material mit feuersicherer selbsttätig zufallender Tür herzustellen. Auch ist für den Apparatraum eine ausreichende, unmittelbar in’s Freie führende Entlüftung vorzusehen. Die elektrischen Leitungen im Apparatraum sind den Sicherheitsvorschriften des Verbandes Deutscher Elektrotechniker entsprechend und zwar vollkommen in Isolierrohr zu verlegen. Der Boden und die Wände des Lampenkastens sind mit Asbest auszufüttern (Polizei-Verordnung vom 30. September 1907 § 2). Die Feuerschutztrommeln dürfen von dem Stift, welcher die Filmrollen trägt nicht abnehmbar sein; sie müssen vielmehr fest mit dem Tragstift verbunden sein. Die Öffnungen beider Behälter, durch welche der Film geht, müssen auch während der Vorführung so eng sein, daß das Eindringen von Flammen in den Behälter ausgeschlossen ist. In dem Apparatraum darf nur immer die gerade auf dem Apparat befindliche Filmrolle vorhanden sein. Die übrigen Films müssen in einem anderen Raum (jedoch nicht Zuschauerraum oder einem Raum des Panoptikums, in dem Publikum verkehrt) in einem völlig geschlossenen Metallbehälter aufbewahrt werden. Ein hierzu geeigneter Raum ist nachzuweisen. (LAB)

19. Januar 1908  PP: Künftig erfolgte der Hinweis auf Dauervorstellungen des Vitascope-Theaters, wochentags nachmittags ohne besonderes Eintrittsgeld, am Sonntag bei gemischten Programm. Deren Apparate sollen völlig flimmerfreie Ansichten geliefert haben. Die kinematographischen Bilder wurden auf eine auf der Bühne aufgehängte Leinewand aus Asbest projiziert, während unterhalb der Bühne im Zuschauerraum ein Klavierspieler die Filme intonierte. Erwähnt wird das Vitascope-Theater bis 1912. Es wurde nur sonntags stets nach einem gemischten varietéähnlichen Unterhaltungsprogramm eingesetzt als abschließender Programmpunkt. In der Woche entfielen die varietéähnlichen Vorführungen, nur der Kinematograph bespielte den gesamten Nachmittag die Zuschauer. Im Oktober 1908 wurde das Gesuch um die Aufstellung eines dritten Projektionsapparates für Projektionen von Scheinwerfer-Reklame baupolizeilich abgelehnt, da die eiserne Beleuchtungsbude bereits mit den beiden darin befindlichen Apparaten sehr beengt war. Einer davon spielte die Filme ab, der andere diente dazu, die Titel der vorzuführenden Kinematographen-Bilder anzuzeigen. Später wurde der dritte genehmigt, ein automatischer Projektionsapparat mit Glühkohle in der Bogenlampe, und fand seine Aufstellung in einem feuergesicherten Seitengang des Passage Theaters. Er diente jahrelang als Schweinwerfer für Reklamebilder, die in den Fußgänger-Durchgang der belebten Kaiserpassage projiziert wurden und die breiten Laufflächen bestrichen (LAB).

Professionalisierung des Technikformats Film in Castan’s Panopticum

26. Juli 1908  CP: Von nun an wurden alle Spiel- und Tonbildfilms sowie das komplette kinematographische Equipment inklusive eines geprüften Operateurs aus einer Hand gestellt und in Castan’s Theatersaal im 2. Stock vorgeführt: durch Alfred Duskes Kinematographen- und Filmfabriken GmbH (LAB). Ab Anfang August wurde Duskes Vitograph mit stündlichen Vorführungen abwechselnd im Illusions- oder Theatersaal von CP beworben. Eine Feuerwehr-Prüfinspektion stellte im September fest, dass die nach wie vor auf Holzdielen stehende Apparatbude jetzt aus einem Lattengestell bestehe, das außen mit Blech bekleidet wurde und dessen Decke aus Asbestleinwand besteht. Gefordert wurde das Beschlagen des Fußbodens mit Blech, eine sich selbsttätig schließende Tür zur Apparatebude, eine bessere Entlüftung, da im Raum ein starker Zelluloidgeruch herrschte, unbrennbar schließbare Filmtrommeln und ein Raum zur sicheren Aufbewahrung der Filme und Filmschnitzel. Im Dezember 1908 meldete der künstlerische Geschäftsführer Ernst Skarbina den Vollzug der Auflagen. Zur besseren Entlüftung war nun ein Eisenblechrohr gelegt worden, das durch ein Fenster direkt ins Freie führte. Da von Duskes Kinematographen- und Filmfabriken GmbH nie mehr als 2 Filmrollen zu gleicher Zeit in CP verbracht wurden, von denen einer in einem dicht schließenden Metallbehälter aufbewahrt wurde, während der andere lief, brauche man keinen Extraraum zur Verwahrung. Nun entstanden möglicherweise erste Überlegungen der CP GmbH zur Einrichtung eines eigenen Kinosaals: frei von plastischen Inszenierungen mit leicht entflammbaren Dekorationsmaterialien, frei von einzeln stehenden Wachsfiguren, frei von Textilbespannung der Wände, Bühnen und Decken und frei von Bühnenprogrammen.

1909  CP: Alfred Döblin stellte in seinem literarischen Text über das Theater der kleinen Leute das alte Panoptikums- und junge Filmwesen in ein direktes Verhältnis zueinander, nahm beider vorübergehend konkurrierenden Zustand wahr und hielt auf diese Art einen kulturhistorischen Moment fest, der dabei war, zu entschwinden. Einen direkten Einblick gewährten ihm dabei Besuche in Castan’s Berliner Panopticum.

Selbstgeführtes Kino in Castan’s Panopticum?

27. September 1910  CP: Durch den künstlerischen Geschäftsführer Ernst Skarbina und den kaufmännischen Geschäftsführer Paul Oskar Gottschalk erfolgter Antrag an das Berliner Polizeipräsidium, im 2. Stock des Pschorr-Bräu auf dem Grundstück der Behrenstraße 25/26 in den Räumen von CP ein Kinematographen-Theater einrichten zu dürfen. Dessen Nutzung sollte im eigens neu hergerichteten Theatersaal ab April 1911 erfolgen.

30. Dezember 1910 CP: Dreiseitige baupolizeiliche Genehmigung unter der Nummer 4469 erfolgt: zur Vornahme baulicher Änderungen behufs Einrichtung eines selbst zu betreibenden Kinematographen-Theater für max. 162 Personen bei fester Bestuhlung (LAB). Betreffend die Sicherheit in kinematographischen Theatern galt die Polizeiverordnung vom 30.9.1907. Doch zum Kino in CP kam es nicht. Skarbina teilte dem Polizeipräsidium am 17.3.1911 mit, von der Einrichtung eines Kinosaals Abstand zu nehmen zugunsten eines bald zu eröffnenden, fast das Doppelte an Gästen fassenden kabarettistischen Corso-Theaters. Die genauen Gründe zu diesem Entscheid sind unbekannt, doch gab es im Mai 1911 in Berlin und seinen Vororten bereits 280 Lichtbildtheater, die täglich 120000 Personen Platz boten, darunter ein bedeutendes modernes Kino Unter den Linden 21 direkt neben der Kaiserpassage in direkter Nähe zu CP im Pschorr-Bräu Friedrichstraße 165. Außerdem wird die feuerpolizeilich geforderte Freimachung der Zu- und Abgänge im Panopticum zum geplanten Kino durch mehrere Räume hindurch die Geschäftsleitung von CP wegen der nötigen Fortschaffung zahlreicher Ausstellungsgruppen vor unüberwindliche Hürden gestellt haben.

1911: Das illustrierte Familienblatt Die Gartenlaube bemerkte, dass inzwischen das lebende Lichtbild in der ersten Reihe aller Schaustellungen stünde und in nie erwartetem Umfang ein Unterhaltungsmittel für alle Schichten der Bevölkerung geworden sei.

1911: Alfred Polgar formulierte mit seinem Satz: So ist die kinematographische Welt: eine Welt mit einer vierten, aber ohne dritte Dimension einen überzeugenden Gedanken, der dem vorliegenden Beitrag hätte vorangestellt werden können: Solcherart scheint mir der Kinematograph als optisches Phänomen etwas durchaus Verwandtes dem akustischen Phänomen, das wir ‚Musik‘ nennen. Die Musik setzt nur einen einzigen Nerv in Schwingung; aber diese Schwingung hat die mysteriöse Kraft, unseren ganzen inneren Menschen in Bewegung zu setzen; die geheimsten Tore der Seele aufspringen zu machen. Und jedem Ton, der in unser Bewusstsein tritt, folgt aus diesen Toren eine gewaltige Suite von Bildern, Farben, Gefühlen, Vorstellungen. An unserer Einbildungskraft wird gewissermassen die vierte Geschwindigkeit eingeschaltet: hemmungslos trägt sie ihren Passagier durch Himmel und Hölle. So krass ist nun die Geschichte beim Kinematographen nicht. Aber immerhin tritt etwas Ähnliches ein. Eine ähnliche Befruchtung aller übrigen Sinne durch die Reizung des einen optischen Sinnes. Die Wiese im Kinematographentheater duftet besser als die auf der Bühne, weil ja der Kinematograph eine wirkliche, echte Wiese zeigt, der ich den Duft ohneweiters zutraue und ihn nun so vollkommen, als die durch nichts gestörte Phantasie sich ihn erträumt, meiner Nase suggeriere. Sie duftet aber auch besser als die natürliche, lebende Wiese, weil diese niemals so lieblich und unvermischt exakt duften kann wie meine blühende Wiese, die ist und doch nicht ist. … Nur im Traum und im Kinematographen gibt es eine Wirklichkeit ohne Schlacken. Für beide sind die Naturgesetze aufgehoben, die Schwerkraft erloschen, das Dasein ohne Bedingtheit. Und für beide hat das rätselvolle Wort des Gurnemanz Sinn und Gültigkeit: ‚Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit‘. Zu den allerschönsten Flügen aber reizt der Kinematograph den akustischen Sinn des Zuschauers. Nicht einmal das Pianoforte, das mitdudelt, stört da. Was für ein grandioser Bass rollt aus des Helden Kehle, wie sanft und melodisch singt es von den Lippen der schönen Frau, wie abscheulich krächzt der Bösewicht! Wie schrecklich bläst der Sturm, wie höllisch faucht und zischt die gereizte Woge! Wie schön spielt der alte Musikus in den ‚Kleinen Vögeln‘ Klavier, wie harmonisch und hell klingt das Lachen der heiteren Gesellschaft in Montecarlo (und wie witzige, scharmante Dinge sprechen die befrackten Herren!), wie prachtvoll spielt das Orchester zum Tanz des Fräuleins, und wie fein und zärtlich knirscht der Sand des herbstlichen Parkes unter ihren kleinen Pariser Schuhen. So ist die kinematographische Welt: eine Welt mit einer vierten, aber ohne dritte Dimension.

November 1911  PP: Vorführverbot eines Films erwähnt, der den originalen Zweikampf der amerikanischen Boxer Jack Johnson gegen James J. Jeffries vom 4. Juli 1910 in Reno, Nevada, zeigte. Eine private Beschwerde vom 15.11.1911 über die Aufstellung beider Wachsfiguren im Schaufenster des PP in der Kaiserpassage, in der der schwarze Sieger Johnson sieghaft seinen Fuß auf die Brust des hilflos bereits am Boden liegenden weißen Jeffries setzte, hatte dafür den Ausschlag gegeben. Das muss allerdings nicht bedeuten, dass dieser Film überhaupt im PP laufen sollte, auch wenn die wächserne Inszenierung eher in direktem Bezug zum Film stand, denn das Ereignis lag bereits eineinhalb Jahre zurück. Der Kampf seinerzeit wie auch der bald darauf vermarktete Film lösten in den USA gewaltige Unruhen aus, woraufhin der Film in vielen Staaten und Städten zensiert wurde. Die ursprünglich scheinbar authentisch inszenierte wächserne Boxszene im Schaufenster des PP wurde daraufhin zum Kampf zweier weißer Boxer umgestaltet (LAB).

1911: Neue Vorschriften für Kinematographen-Theater, verhandelt durch die Feuerwehr und die Theater-Abteilung des Polizei-Präsidiums Berlin
Sie trafen künftig auch auf die kinematographischen Abspielstätten innerhalb eines Panoptikums zu. […] Die genannte Verordnung zielte in erster Linie darauf hin, die Gefahr tunlichst abzuschwächen, welche sich aus der ganzen Verbindung der hochentzündlichen Celluloid-Filme mit dem Projektionsapparat, dessen Lichtquelle eine intensive Hitze entwickelt, ergibt. Ihre Vorschriften betreffen daher im Wesentlichen die technische Ausgestaltung der Beleuchtungsvorrichtungen, des Lampenkastens, die Sicherung der Filme vor der Entflammung und dem Übergreifen der Flamme auf den ganzen Filmstreifen, die Aufbewahrung in Feuerschutztrommeln und Metallkästen usw. Die Anlage des Apparateraumes und des Zuschauerraumes wird dagegen nur flüchtig gestreift. Mit dem raschen Anwachsen der Zahl der „Kintöppe“ haben sich seit dem Erlass der 1. Polizeiverordnung zahlreiche Mängel und Missstände herausgestellt, denen die neue Verordnung abhelfen soll. […]. Von diesen [Vorführungsräumen] wird in der neuen Verordnung folgendes verlangt werden: Der Vorführungsraum muss mindestens 4 qm Grundfläche und 10 cbm Luftraum erhalten, seine lichte Höhe muss im Durchschnitt 2,80 m betragen. Der Vorführungsraum muss von dem Zuschauerraum und dessen Zugängen durch feuerfeste Wände und Decken völlig abgetrennt sein. Projektions- und Schauöffnungen sind selbstverständlich zulässig, dagegen keine Türen, so dass der Vorführungsraum nicht vom Zuschauerraum aus betreten werden kann. Ein unmittelbar ins Freie führender Rückzugsweg für den Vorführer ist vorzusehen. Die Türen zum Vorführungsraum müssen feuersicher sein, selbsttätig zufallen und sich nach aussen öffnen. Die Projektions- und Schauöffnungen müssen möglichst klein sein und sind mit 5 mm starken Blech in Zementputz oder Eisenrahmen zu schliessen. Im Vorführungsraum ist eine Saugentlüftungsanlage anzubringen.

Auf die Verbesserung der Zuschauerräume beziehen sich die nachfolgenden Vorschriften: Zur Bekleidung der Wände dürfen nur schwer entflammbare (d.h. imprägnierte) Stoffe Verwendung finden. Sie müssen mit den Wänden fest verbunden sein. (Um das Verlegen von Leitungen in den Hohlraum zwischen Wand und Wandbekleidung zu verhindern.) Deckenbekleidungen aus Stoff sind verboten. Die Einschaltung der Beleuchtung des Zuschauerraumes muss nicht nur, wie bisher, vom Vorführungsraum, sondern von einer geeigneten Stelle im Zuschauerraum selber erfolgen können. Die Türen des Zuschauerraumes müssen nach aussen aufschlagen und mit einem Baskül-Verschluss, wie er schon bei den Türen von Theatern und Versammlungsräumen gefordert wird, versehen sein.

Pachtkino KinemaKolor (KiKo) und eigenes Uraufführungskino im Passage Panoptikum

Oktober 1912  PP: Exklusive Verpachtung des Passage-Theaters auf ein Jahr gegen 100.000 Mark an die zur Auswertung des Kinemacolor-Verfahrens eigens gegründete deutsche Kinemakolor-Gesellschaft, welche Vorführungen in Berlin bereits bei Kroll betrieben. Unmittelbar darauf erfolgte in den Räumen des früheren Passage-Theaters nach Umbauten durch den Architekten Sternsdorff die Gründung des Lichtspieltheaters Kino Kinemakolor (Kiko). Das dort angewendete Zweifarb-Verfahren beruhte auf den Erfindungen der Engländer George Albert Smith und Charles Urban und wurde als naturfarbig beworben.

11. November 1912  PP: Der Siegeszug des Films warf nun auch die Bühnentradition des Passage Theaters über den Haufen. Die Premiere im Kino Kiko Lichtspiele mit Kinemacolor-Filmen im fremdverpachteten früheren Passage-Theater erfolgte mit kinematographischen Stimmungsbildern aus der Erntezeit, holländischen Blumenbildern, der Vorführung einer Ruderregatta auf der Themse, Vorführungen aus der asiatischen Vogelwelt sowie einer wissenschaftlichen Einlage über den Wasserstoff. Diese Filmbilder wurden durch eine kleine Kapelle musikalisch begleitet und erschienen auf der weißen Wand gegenüber der nun verdeckten früheren Varietébühne, das Parkett stieg, nach Umbau, nun nach hinten zu an.

Parallel zum frühen kommerziellen Scheitern der Kinemacolor-Programme bewarb und inserierte man auch in den Kiko Lichtspielen des PP Filme weiterhin nach Genres, also theaterähnlich getrennt als farbige- oder schwarz-weiß-Dramen, humoristische Szenen, Naturaufnahmen oder wissenschaftliche Filme. Bis in den Dezember wurden folgende Filmtitel aufgeführt: Die Tochter des Blinden und Telefonische Verbindung mit Max Linder in der Hauptrolle, die Burleske Um Gretchens Hand, Filmbilder einer deutsch-ostafrikanischen Schule in der Provinz Usambara, das Filmdrama Menschen unter Menschen nach Viktor Hugo sowie einige der Max Linder-Reihenfilme. Als großes Drama in drei Akten angekündigt wurde der Film Dornenpfade nach dem französischen Roman von Jules Claretie Der kleine Jakob. Das Programm wurde wöchentlich gewechselt, oft mehrere Filme hintereinander abgespielt.

18. Dezember 1912  PP: Die Kiko Lichtspiele zeigen farbige Landschaftsbilder, u.a. die Niagarafälle und Volksszenen aus dem Lande Mohammeds mit seinen seltsamen Volkstypen und exotisch-orientalischem Leben. Nach welchem technischen Verfahren diese gefertigt waren, ist im Moment nicht sicher – infrage kommen weiterhin Kinemacolor-Filme oder es handelte sich um viragierte bzw. schablonenkolorierte Schwarzweiß-Filme. Hauptattraktion war der dramatische Film nach Jules Claréties Dornenpfade (Le Petit Jacques), es folgten Humoresken und die Wochen-Chronik. Nach Auslaufen des Pachtvertrages mit der Kinemakolor-Gesellschaft ab Oktober 1913 wird im umbenannten Biervarieté an gleicher Stelle die Vorführung von Filmen unter dem Namen Das Kinovariété Berlins beibehalten, die sich nun jedoch heftiger Kritik ausgesetzt sahen, da sie nicht nagelneu waren und alle aus dem gleichen Atelier zu stammen schienen.

1913  PP: Der 1878 in Cairo (Ägypten) geborene Mohamed Soliman, türkischer Staatsbürger, trat als neuer Pächter und seit Ende 1915 als Direktor und Besitzer des PP samt aller angeschlossenen Unternehmungen auf, er warb seit 1915 für das bereits früher kinematographisch agierende Passage-Theater als neuem Uraufführungskino. Unter dem Namen Passage-Theater hat man ab 1915 nunmehr das durch das PP selbstbetriebene Kino in den eigenen Räumen der Kaiserpassage zu verstehen, das später als Passage-Lichtspiele bis in die 1940er Jahre existieren wird. Nach einem Umbau 1929/1930 besaß es 432 Sitzplätze, erhielt Strom von der BEWAG und drei Notbeleuchtungslampen im Saal, der ohne Bühne aber mit Orchester und zwei geprüften Lichtbildvorführern bespielt wurde, die zwei Bildwerfer zwecks pausenloser Vorführungen bedienten. Soliman bewarb seit 1915 seine neuen Filme regelmäßig im Berliner Lokalanzeiger. Eine von Solimans Töchtern kolportierte später, dass unter ihrem Vater erstmals in der Hauptstadt frühe Filme mit Charlie Chaplin gezeigt wurden. Nachweislich gespielt wurde hier u.a. Richard Oswalds Kulturfilm Es werde Licht! und Filme mit Max Linder. Die Filme wechselten nahezu wöchentlich.

24.12.1918 bis 21.12.1919  PP: Folgende Filme liefen im Kino Passage-Theater:
Unter den Linden 22. Dir. M. Soliman. 2 Uraufführungen: Der schweigende Gast. Detektiv-Schauspiel in 4 Akten. In der Hauptrolle: Curt Brenkendorf. Wenn die Liebe nicht wär! Ein heiteres Filmspiel in 3 Akten mit Lu L’Arronge, Die Ersatz-Jungfrau (Ernst A. Becker), Hummels Steckenpferd, … und ich liebe dich doch (mit Ludwig Trautmann), Die Nacht der Entscheidung (Paul Rosenhayn), Prof. Grüblers Abenteuer, Der falsche Ritter Kuno (Teni Dathe), Die singende Hand (Hans Land, Theodor Loos-Serie 1918/19), Ein Detektiv-Duell (Georg Alexander), Tausend und eine Frau, Mädel, ruck, ruck, ruck, Der gelbe Tod oder der Tod der Prostitution (Carl Wilhelm), Die Enterbten, Erblich belastet. Die Geschichte einer Ehe (Georg Alexander), Erkämpfte Liebe (mit Lotte Neumann), Der Hund von Baskerville (mit Alwin Neuss), Die Tragödie der Manja Orsan (mit Leontine Kühnberg), Die Braut auf 24 Stunden (mit Hedi Ury), Liebe, die sich frei verschenkt (mit Wanda Treumann), Die Geschichte eines Spitzenfuchses, Warum das Weib am Manne und das Weib am Weib leidet (Monumentalfilmwerk), Am Hochzeitsmorgen (mit Magda Simon), Heddas Rache oder Die Tochter der Prostituierten, Der Ueberfall auf Zug Nr. 3 (Amerikanisches Wild-West-Drama), Arme Maria (nach Friedrich Hebbel), Frech gewagt ist halb gewonnen (mit Rosa Porten), Der nicht vom Weibe Geborene (mit Rolf Nordeck, Konrad Veidt), Die Austernkur, Die gestohlene Seele (mit Rita Clermont), Triumph des Lebens (mit Ally Kolberg), Leichtsinn und Lebewelt. Im Paradiese (mit Hanni Weisse), Fox-Trott-Papa (mit Tea Steinbrecher, auch Drehbuch), Die Dame im Pelz (mit Ellen Ullri), Der ‘Fürst’ als Verbrecher (Detektiv-Drama), Der Herr des Lebens (mit Liane Haidt, Wilhelm Klitsch), Seine Liebe war mein Tod (mit Ally Kolberg), Feindliche Gatten II (mit Thea Sandten, Rolf Randolf), Die Knall-Zigarre, Die Welt der Bestien (Sensationsfilm aus Südwest-Afrika), Die Rache des Verschmähten oder Sklaven des Kapitals (mit Käthe Haak, Heinrich Schroth), Nie sollst Du mich befragen (mit Ilse Bois), Ich klage an! (mit Leontine Kühnberg), Unikum, Aus eines Mannes Mädchenjahren (N. O. Body), Finstere Mächte oder Dämon des Neides, Die Pflicht zu leben, Piccolo-Liebchen (mit Lu L’Arronge), Die Prinzessin von Ubino, Das Machttelegramm, Der ledige Hof (Ludwig Anzengruber), Um Diamanten und Frauen (Detektiv-Abenteuerfilm aus der afrikanischen Wildnis), Die Ahnfrau (nach Franz Grillparzer), Los vom Weibe (mit Paul Reidemann), Das Recht der freien Liebe (mit Magnus Stifter, Käte Richter), Karlchen wird eingeseift (mit Karl Victor Plagge).

Film – Sargnagel des plastischen Bildformats Panoptikum

Der aktive Anteil des Film- und Kinowesens am Untergang des Bildmediums Panoptikum kam – europaweit – zustande mithilfe räumlicher und personeller Kontinuitäten, durch vergleichbare Strukturen beider Unternehmensgründungen und -führung, durch die rückstandslose Übernahme und einem technisch intensivierten atmosphärischen Verdichten sämtlicher bereits in einem Panoptikum vorgeführten Genres durch das Filmwesen sowie andererseits durch die programmatische Einverleibung früher Kinematographie seit 1899 in die Begleitprogramme stationärer und wandernder Panoptika – und auch durch die technische Einverleibung des populären Bildformats Panoptikum als Sujet durch den Film selbst.

5. Februar 1922  CP: Karlernst Knatz schreibt über die Kunst des Panoptikums, die am Kino stürbe, nachdem auf der Leinwand unheimlichstes Leben zur Wirklichkeit geworden sei.

15. Februar 1922  CP: Eine Tageszeitung sinniert über Zeitgenossen, die da meinten, dass das Panoptikum als volkstümliches Schauinstitut längst veraltet, und überholt worden sei durch das Kino – doch sie würden irren, denn gerade die plastischen und kostümierten Figuren würden ganz anders als das bloße Flimmerbild auf die Psyche einwirken.

23. Februar 1922  CP: Castan’s Panopticum wird dem nach 1871 aufblühenden Alt-Berlin zugeordnet, während Neu-Berlin seit 1918 im Zeichen des Kinos und der Likördiele stehen würde, in das ein Panoptikum nicht mehr hineinpasse.

26. Februar 1922  CP: Arthur Eloesser reflektiert in einer Tageszeitung über die Leistung eines Panoptikums aus einer Zeit, in der die dort verwendeten Sujets noch nicht durch den Film nur zweidimensional vor den Augen vorbeiflimmerten. Wer hat Castan umgebracht? Der Film natürlich. Denn das alles konnte Castan nicht und darum musste er abdanken. Seine Figuren waren unbeweglich, sie hatten es allein in dem wunderbaren Ausdruck der Augen und statt der geflimmerten Biographie bekamen sie einen Zettel angeklebt, auf dem nach meiner Erinnerung vorzugsweise von ‚welcher‘ und ‚derjenige‘ und ‚derselbe‘ die Rede war.

27. Februar 1922  CP, PP: Eine Tageszeitung stellte fest: Aber gerade die Geschichtslosen im Volk vergaßen nicht so rasch, sie schüttelten diese Schreckgespenster nicht so eilig ab und besprachen sich länger und eingehender über die Mordchronik als über die Ereignisse der großen Politik; sie fürchteten und liebten gleichzeitig die Romantik des Grauens, die sie heute vorzugsweise im Film als einem noch nicht ‚gleichwertigen‘ Ersatz für das Panoptikum suchen. Das scheinen nun die Gebrüder Castan besser erfaßt zu haben als wir ‚Gebildeten‘, die wir die Achseln zucken, wenn von ihrem Panoptikum die Rede war, und ich glaube, ihre Bestrebungen verdienen einen Nachruf.

28. Januar 1923  PP: Eine Tageszeitung reflektiert: Als im Jahre 1900 Direktor Rosenfeld das Panoptikum vom Aktien-Bauverein Passage pachtete, kam mit der Einführung der D-Vorstellungen ein neuer, selbständiger Zug in den bis dahin in reinem Nachahmen-Wettbewerb mit Castan stehenden Betrieb. Das Passage-Theater, das daran angegliedert war, auf dessen Brettern u.a. Isadora Duncan als die unfreiwillige Begründerin der modernen Nackt- und Halbnackttänze sich den Berlinern vorstellte, wurde allmählich eine zwischen Varieté und Kabarett schwankende Bühne. Nach 12jährigem Bestehen, nachdem auch das erste Berliner Biercabarett dort entstanden war, hatte das Kino dieser Entwicklung ein Ende bereitet. Nach dem Ende der Rosenfeld-Aera übernahm Direktor Soliman den Gesamtbetrieb […] unter Wiederbelebung des Passage-Theaters als eine Lichtbildbühne. Nur das Passage-Theater [Kino] hat noch eine Galgenfrist von vier Wochen.

25. Februar 1923  PP: Joseph Roth fasst in einer Tageszeitung zusammen, dass im neuen Zeitalter einer erwachten Freude an der gesteigerten Bewegung, die im Film ihren Ausdruck findet, ein Panoptikum nichts mehr zu erfüllten hätte.

1923: Kinematographisch wurde die lebensgroße Wachsfigur bereits Ende 1908 zum stummen Filmsujet. Der 162 Meter lange Film wurde als komisch vermarktet und hieß: Die Wachsfigur. Im 1923 entstandenen Stumm-Langfilm Das Wachsfigurenkabinett von Paul Leni hingegen bot eine ausgewählte Porträtfigurensammlung auf einem Jahrmarkt sowohl die Rahmenhandlung als auch einzelne episodische Handlungsstränge, die durch die Biographien der Porträtfiguren geliefert werden. Erst dieser Film löste mediengeschichtlich ganz augenscheinlich das plastisch tätige Panoptikum ab. Der Film ersetzte die ungelenke, stationär gebundene, nicht-industrialisierbare Präsentation der lebensgroßen Wachsfigur durch das bewegte und ungemein rasch und oft reproduzierbare zweidimensionale Abbild, vervollkommnete die statische plastische Sammlung von Episoden und Momenten und Objekten durch Hinzufügen einer vorgefertigten beweglichen und bewegten Handlung. Objekte und Rara aus stationären Panoptikums-Sammlungen überdauerten, ihres Entstehungs- und Zugehörigkeitshorizontes entrissen oder daraus vertrieben, als Fossil eines untergegangenen Bildmediums, und gewannen nur als Einzelstücke an museumswürdigem Denkmalcharakter hinzu.

22. Januar 1933  CP: Bericht einer Tageszeitung unter dem Titel Guckkasten, Panorama, Panoptikum über die Großmutter der aktuellen Filmwochenschau, Castan’s Panopticum, dem zum Überleben allein die Bewegung gefehlt hätte. Ein Besuch dort wird als Berliner Kintoppvergnügen vor dem Film charakterisiert.

28. Juli 1939  CP: Franz Xaver Ragl schreibt in einer Reminiszenz über das Ende von CP 1922, an dessen wirkmächtigere Stelle die Wochenschau in den Kinos getreten sei.

1941  CP, PP: Ein namentlich ungenannt gebliebener Journalist bezeichnet sich und seine Zeitgenossen als Kinder einer Zeit des Films, Rundfunks und Fernsehens, die schon lange Abstand genommen hätten von der Kitsch- und Gruselstätte Panoptikum.

1947  Präuscher’s Panoptikum Wien, CP, PP: Erich Kästner publiziert rückblickend über die Zwangsläufigkeit eines Ruins des plastischen Bildmediums Panoptikum durch den Film, denn eine Schlacht nach der anderen ging verloren […] Die Panoptikumbesitzer haben ihre Niederlage eingesehen. Die einen haben resigniert und sich am Fensterriegel aufgehängt. Die zäheren haben ein Kino gepachtet […] Die Abenteuer im Urwald und am Nordpol, bei Waterloo und am Operationstisch, im Harem und bei Königgrätz, sie fesseln, reizen, rühren den hochzivilisierten Betrachter im bewegten Bilde ungleich stärker als in der festgefrorenen, ewig gleichen Pose.

1958: Der Film des Österreichers Walter Kolm-Veltée, einem enfant terrible und Filmhasser der Willy-Forst-Ära, erscheint unter dem Titel Panoptikum 59. Im Berliner Tagesspiegel vom 30. November 1958 schrieb Inge Santner unter der Überschrift Parzival kontra Cagliostro, der Film Panoptikum 59 wende sich energisch vom süßen Unterhaltungsgenre ab und will hintergründige Gegenwartssymbolik in human-optimistischer Tendenz auf die Leinwand bringen. Walter Kolm-Veltée gab 1999 als einer der letzten Überlebenden aus den Kindertagen der österreichischen Kinematographie in einer Fernsehdokumentation Auskunft über die Entstehung des Filmwesens in Wien (wikipedia, August 2024).

1962  CP, PP: Hellsichtiger Kommentar zur Medienentwicklung: Mag es auch kommen, daß in Zukunft das Phänomen Film, das bewegliche Bild, durch neue Erfindungen verdrängt und durch gelehrte Abhandlungen, wie einst die starre Wachsfigur, in das Schattenreich des monströsen Kitsches verwiesen wird. Mag man auch durch neue menschliche Findigkeit und Forschung die Fotografie als ein rohes Behelfsmittel voratomarer Kulturkreise abtun […] Auf eines wird der Mensch nie verzichten können, auf die Anwendung seiner Sinnesorgane […] das Auge […] Auch wir benützten es, um den Blick auf einen Gegenstand zu richten, dem man es auf den ‚ersten Blick‘ nicht ansieht, daß er so bedeutenden Anteil am gesellschaftlichen Werdegang der Menschheit gehabt hat – die Wachsfigur.

2024: Anhand der Nachverfolgung von jahrzehntewährender Umnutzung des prachtvollsten Raumes der 1873 eröffneten Berliner Kaiserpassage – dem zweigeschossigen, u.a. von Oskar Begas mit Monumentalmalerei geschmückten Festsaal zur Straße Unter den Linden – zeigt sich exemplarisch die technisch bedingte Transformation der Bildungs- und Unterhaltungskultur im 19. und frühen 20. Jahrhundert vom drei- zum zweidimensionalen Bildmedium. Einige Genres fielen dem nachhaltig zum Opfer, wozu die Institution Panoptikum gehörte oder der Zirkus mit seinen effektvollen Ausstattungsprogrammen – während die hochsubventionierte Oper als vergleichbares Gesamtkunstwerk bis heute überdauern konnte. Daran jedoch hatten Kräfte einer sozialen Transformation erst nach dem Untergang des Kaiserreichs 1918 gewirkt. Denn die Bewahrung der Oper steht beispielhaft für die seit den 1920er Jahren gesamtgesellschaftlich durchgesetzte Trennung von Unterhaltung in Hochkultur und Volkskultur durch eine gesellschaftliche Elite, die auf politischer Ebene für die Subventionierung der Oper sorgte, dabei gleichzeitig verächtlich auf eine niedrige Volkskultur herabschaute. Kulturhistorische Anerkennung blieb Castan’s Unternehmen auch in der Rezeption versagt: obwohl gleichzeitig viel Geld für Erhalt und Neuaufrichtung mittelalterlicher Altertümer ausgegeben wurde, musste das populärste Wahrzeichen des kaiserzeitlichen Berlins zerschlagen werden. Als niedriger bewertete volkstümliche Kulturschau blieb die Anerkennung des multimedialen Bildformats Panoptikum im künftigen Kulturkampf um Subventionen auf der Strecke.

Zunächst konzertierte im Festsaal der königliche Musikdirektor Benjamin Bilse, aus dessen Musikerkreisen das Philharmonische Orchester entstehen würde. Später wurde der Saal in den Rundgang von CP einbezogen, das diesen schönsten Raum der Passage 1877 zur preußisch-deutschen und europäisch-internationalen Ruhmeshalle voller lebensgroßer Porträtfiguren einrichtete. Ähnlich thematisch-zentriert nutzte ihn seit 1888 das konkurrierende PP. Kurz vor 1900 wurde der Raum umgestaltet und bis 1914 als Passage-Theater mit Dauervorführungen genutzt, die eine Mischung aus Musik, Gesang, Posse, Kleintheater, Artistik und Kinematographie darboten. Etappenweise wurde der Raum ab 1912 als KiKo Lichtspiele im Passage Theater, seit 1915, spätestens seit 1917 unter dem neuen Betreiber Mohamed Soliman ausschließlich als Kino genutzt. Dieses Kino unter dem jüngeren Namen Passage Lichtspiele – einst Castan’s weltberühmte Ruhmeshalle – existierte bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg.

Am Ende wurden sowohl die lebenden Menschen, hier einstmals vorgeführt mit all’ ihren vielfältigen Künsten und Ansichten, als auch die lebensgroßen Wachsfiguren sowie die weltlichen historischen Reliquien aus Castans anschaulicher Multimedien-Ausstellung an gleicher Stelle dauerhaft ersetzt durch den Zelluloidstreifen.

Copyright Angelika Friederici, Berlin 2024

Ausführlicher sowie bibliographisch nachgewiesen: Castan’s Panopticum und Passage Panoptikum, Berlin. Eine Rekonstruktion aus Programm, Literatur und Wissenschaft, hrsg. von Angelika Friederici, Verlag Karl-Robert Schütze, Berlin 2024,
ISBN 978-3-928589-33-8

sowie in 35 auch einzeln zu erwerbenden illustrierten Themenheften Castan’s Panopticum. Ein Medium wird besichtigt, erarbeitet von Angelika Friederici, Verlag Karl-Robert Schütze, Berlin 2008-2020,
ISBN 978-3-928589-23-9